Alles Individualismus oder doch nicht?

Wir leben in einer Zeit wo der Wert des Individualismus gross geschrieben wird. Aus einer Vielzahl von Möglickheiten können wir uns unseren Weg zur Selbstverwirklichung zusammenstellen, wir können weitgehend frei reisen und mit Menschen auf dem ganzen Planeten meistens schnell und einfach in Kontakt treten. "Just do it" als passendes Motto dazu. So weit so gut und ziemlich spannend.

Jedoch gibt es auch mahnende Stimmen, wie zum Beispiel Alain Ehrenberg, der die wachsende Ausbreitung von Depressionen und den steigenden Konsum von Antidepressiva als Reaktion auf die allgegenwärtige Erwartung von eigenverantwortlicher, authentischer Selbstverwirklichung sieht. Ergänzend sehe ich auch einen Zusammenhang mit der epidemischen Ausbreitung von Stress und den Stressfolgeerkrankungen (die WHO spricht von 70% aller Erkrankungen, bei denen Stress in einer Form mitverantwortlich ist), sowie den hohen Scheidungsraten und der grossen Zahl der Singles.

Unabhängigkeit macht nicht glücklich, sagt Vivian Dittmar. Und dennoch ist dies eine der kaum hinterfragten Grundannahmen unserer Kultur zum Erwachsenwerden. Es wird angenommen, dass wir in einen Zustand der Abhängigkeit hineingeboren werden. Das Heranwachsen und schliesslich das Erwachsenwerden wird als Prozess der wachsenden Unabhängigkeit beschrieben.

Ist dem wirklich so? Und ist das der bestmöglichste Entwicklungszustand von uns Menschen?

Fakt ist: Wir Menschen brauchen einander! Wir sind fundamental Beziehungswesen. ICH wird am DU zum ICH sagte Martin Buber. Dies ist durch die moderne Bindungs- und Säuglingsforschung auch gut wissenschaftlich belegt. In Wirklichkeit ist es daher eher so, dass mit wachsender Selbständigkeit auch unser Beziehungsnetz wächst. Wir werden somit nicht nur unabhängiger sondern auch beziehungsfähiger. als Erwachsene haben wir mehr Wahlmöglichkeiten (z.B. wenn das Brot beim Bäcker A nicht schmeckt, können wir Bäcker B wählen oder unser Brot selber backen), das heisst unsere Abhängigkeit wird auf mehrere Menschen verteilt.

Unsere Kultur ist eine Teenager-Kultur. Es ist nicht der wirklich Erwachsene, der nach Unabhängigkeit strebt, sondern der hitzige Halbwüchsige. So gesehen befinden wir uns in einer kollektiven pubertären Krise. Immer klarer werden aber auch die Schattenseiten dieser Art von Lebensstil erkennbar.

Die bekannte amerikanische Paartherapeutin Sue Johnson spricht von einem revolutionären Paradigmenwechsel was das Verständnis von Liebe und menschlichen Beziehungen betrifft. Integriert man das menschliche Bindungssystem ins Verständnis von menschlichen Interaktionen, tut sich - fast magisch - eine neue Ebene des Verstehens auf und es wird plötzlich klar, dass wir immer bezogen auf andere uns verhalten und reagieren.

Das Leben gleicht dann eher einem Paartanz, der sich mal beschwingt, lebendig und leicht anfühlt; wo es aber auch Phasen gibt, von aus dem gemeinsamen Takt fallen, von in andere Richtungen wollen etc. und wo es Strategien braucht sich selber und seine(n) Tanzpartner(in) zu regulieren und so immer wieder in den Lebensfluss zurück zu finden.

Eine lohnenswerte und immer wieder herausfordernde Haltung wie ich finde.

 

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